Ein Projekt, das am Herzen liegt – seit 25 Jahren „Mädchenwelten“ feiern Jubiläum

Veröffentlicht am 3. Februar 2023

Wer bin ich? Wie nehmen Andere mich wahr? Möchte ich dieses Bild von mir vermitteln? Wie kann ich meine Ausstrahlung verändern und meine Kommunikation verbessern? Mit diesen und vielen weiteren Fragen beschäftigten sich jetzt 38 Mädchen der Stufe 9 des Europagymnasiums Warstein beim traditionellen Projekt „Mädchenwelten“. Bereits seit 25 Jahren wird diese Aktion von der Stadt Warstein und der Gleichstellungsbeauftragten unterstützt.

 

Vier Tage lang machen es sich die Mädels mit ihren Betreuerinnen im Paulushaus der St. Petrus-Kirchengemeinde gemütlich, um sich abseits von der Schule mal mit anderen wichtigen Themen auseinanderzusetzen. Eingeteilt in drei Gruppen wurden die Neuntklässlerinnen von den Lehrerinnen Barbara Marx, Dagmar Wiethoff, Jasmina Eickmann sowie von den Externen Miriam Degenhardt, die bis zum letzten Schuljahr ebenfalls am Europagymnasium unterrichtete, Julia Maier, Sozialarbeiterin und tätig im Warsteiner Kinder- und Jugendtreff, und Miriam Spielmann, die als Hebamme arbeitet, betreut.

Obwohl das Projekt schon so lange fester Bestandteil der neunten Klasse ist, wird das Programm jedes Jahr verändert und angepasst. „Die Bedürfnisse der Mädchen ändern sich natürlich. Wenn wir allein schon betrachten, was die Medien heutzutage neben ihren Vorteilen auch für Probleme und Schwierigkeiten mit sich bringen, ist das ein Punkt, über den gesprochen werden muss“, so Miriam Degenhardt.

Auch wenn die Medien sich ändern und die Mädchen heutzutage lieber „auf Insta“ scrollen statt durch eine Zeitschrift zu blättern, erkennen die Betreuerinnen: Die Kernfragen sind die gleichen und das Kernproblem ist auch das selbe wie vor 10, 15, 20 oder 25 Jahren.

Am Montag drehte sich deshalb alles rund um die Frage: Wer bin ich und wer könnte ich morgen sein? Die Teenager suchten auf Instagram Profile von typischen Frauenrollen mit Hilfe von Hashtags. „Wir haben mal #mutti eingegeben und uns angeschaut, was für Frauen Bilder mit solchen Hashtags posten und wie diese ihr Leben auf Social Media präsentieren“, berichtete Barbara Marx. Denn: „Nach außen wirkt alles schön und makellos, doch was steckt wirklich dahinter?“, ergänzte Jasmina Eickmann.

Bei der Recherche entdeckten ein paar Mädels einen Post über Selbstliebe und Selbstbewusstsein von einer Influencerin, bei dem gar nicht zu übersehen war, dass die Frau an ihrem Gesicht herumbearbeitet hatte. „Das hat mit sich lieben dann auch nicht mehr so viel zu tun“, merkte Eickmann kritisch an. „Dafür muss man die Mädchen auch ein bisschen sensibilisieren“, berichtete Miriam Spielmann. Denn dass Social Media für die heutigen Generationen eine wichtige Rolle spielt, ist den Betreuerinnen klar.

Anschließend gingen alle Anwesenden in einen aktiven Gedankenaustausch: Wozu nutze ich Social Media? Was poste ich und warum? Wieso habe ich mehrere Instagramkonten und wie wichtig sind mir Likes? Im weiteren Verlauf des Tages beschäftigten die Mädchen sich mit ihrem zukünftigen Lebensweg, den sie einander daraufhin vorstellten.

Am zweiten Tag lag der Fokus auf dem Thema Kommunikation. Eingestiegen wurde mit Videos aus der Sendung „Knallerfrauen“. „Wir haben uns verschiedene Sequenzen angeschaut und uns dann gefragt: Was läuft da schief?“, so Miriam Degenhardt. Verschiedene Erwartungshaltungen und -muster wurden untersucht und hinterfragt. Die Mädchen entwickelten anschließend eigene realitätsnahe Rollenspiele zwischen Schülern und Lehrern, die sie „sehr leidenschaftlich und richtig, richtig gut“ präsentierten, so die Betreuerinnen. In einer anderen Gruppe wurde vor allem die Sprache thematisiert: Wie reden die Teenagerinnen mit ihren Eltern und wie kommunizieren sie mit ihrem Freund oder ihrer Freundin? In einer anderen Gruppe ging es vor allem um die beliebte „Opferhaltung“ der Schülerinnen und wie diese wirklich auf die Lehrerinnen wirken. „Wir haben darüber gesprochen: Was möchtest du gerade in mir auslösen und was löst du wirklich aus?“, so Barbara Marx: „Es ist für die Mädchen noch sehr schwierig zu sagen:‘’Sie haben ja doch ein bisschen Recht’.“ Diese Erfahrung machte auch Dagmar Wiethoff in ihrer Gruppe: „Die Mädels werden sehr ungern mit ihrem Gesprochenen konfrontiert und versuchen oft, dem aus dem Weg zu gehen. Doch die Schlussreflexion zeigt dann, dass genau diese Auseinandersetzung für die Person sehr wichtig und gewinnbringend war. Das ist schön Anzusehen.“ Wiethoff leitet schon seit vielen Jahren Stufen durch die Oberstufe und weiß aus Erfahrung: „Mit Blick auf die Oberstufe ist es wichtig, dass die Mädchen sich klarmachen: So möchte ich wahrgenommen werden und so eine Schülerin möchte ich sein.“ Und Jasmina Eickmann ergänzte: „Wir hoffen natürlich, dass die Mädchen diese Methoden zur Selbstreflexion mitnehmen und später auch nutzen.“

Der dritte Tag begann für die Beteiligten des Mädchen-Projekts mit einem gemeinsamen Frühstück. Anschließend wurde den Mädchen der Kurzfilm „Männerwelten“ von Joko und Klaas gezeigt, in dem Situationen thematisiert werden, mit denen auch die jungen Frauen schon konfrontiert werden: von unerwünschten Genitalbildern über die Reduzierung auf das Äußerliche und Sexualisierung von normalen Handlungen bis zum victim shaming. Nach den erschreckenden Bildern und Geschichten berichteten die Schülerinnen und ihre Betreuerinnen in den Kleingruppen von ihren eignen Erfahrungen und überlegten anschließend, was man gegen sexuelle Belästigung im Netz oder auf der Straße und gegen die Angst im Dunkeln auf dem Nachhauseweg machen könnte.

Unterstützt wurden die Gruppen dabei die vergangenen Jahre von einem Kriminalpolizisten, der die Mädels darüber aufklärte, ab wann eine Handlung schon eine Straftat darstellt und wie sie diese, auch online, anzeigen können. Doch dieser musste vor einigen Tagen nach Lützerath, und konnte den Termin leider nicht wahrnehmen. Eine Alternative wurde jedoch schnell gefunden: Marie Schlothane und Hasiba Colakovic betreiben seit mehreren Jahren den Kampfsport Taekwondo und erklärten sich bereit, ihren Mitschülerinnen das Thema Selbstverteidigung näher zu bringen. Die Gruppen beobachteten aufmerksam, wie Marie und Hasiba sich aus den Griffen des jeweils anderen befreiten und zeigten großes Interesse an der Thematik. Sie machten Selbstwahrnehmungsübungen und das anfangs zaghafte „Nein!“ der Mädchen wurden immer lauter und bestimmter, als ihnen die Wichtigkeit der selbstbewussten Grenzaufzeichnung bewusst wurde.

Das Thema Kommunikation wurde im Folgenden erneut mit Hilfe von Rollenspielen vertieft. Die Neuntklässlerinnen sollten versuchen, sich bei verschiedenen Kurzgeschichten in die unterschiedlichen Perspektiven der Betroffenen zu versetzen: Bin ich schuld, wenn jemand, dem ich vertraut habe, private Bilder von mir veröffentlicht? Was kann ich dagegen tun? Wie können Freunde und Freundinnen, Eltern und auch Lehrer und Lehrerinnern Opfern solcher Handlungen helfen und sie vor dem victim blaming schützen?

Zum Abschluss dieses Tages verfassten die 32 Mädchen einen Brief an sich selbst, der ihnen beim Abitur überreicht wird.

Am Donnerstag drehte sich alles um das Thema Liebe und Sex. Anders als im Sexualkundeunterricht konnten die Schülerinnen hier alle Fragen in kleinen Gruppen ohne Hemmungen stellen, auch anonym. „Hier steht am Ende keine Note, sondern einfach nur gewonnene Erfahrung, das macht einen großen Unterschied“, merkte Dagmar Wiethoff an. „Im Klassenraum herrscht immer eine gewisse Hierarchie, aber hier bieten wir den Schülerinnen einfach unsere Lebenserfahrung und Perspektiven an, wissen aber natürlich auch, dass sie teilweise schon ihre eigenen Erfahrungen gemacht haben“, ergänzte Degenhardt.

Besonders der Punkt Verhütung spielte am Donnerstag eine entscheidende Rolle. Miriam Spielmann arbeitet als Hebamme und stand den Schülerinnen als Expertin Rede und Antwort. Sie erzählte: „Das ist für mich wie eine Reise zurück in die Vergangenheit, weil ich all diese Gedanken, Sorgen und Fragen früher auch hatte.“ An medizinischen Modellen wurden verschiedene Verhütungsmethoden und deren Auswirkungen auf den Körper erklärt. Auch Fragen wie „Wer sorgt wofür?“ und „wie verhüte ich wirklich sicher und schütze mich nicht nur vor einer Schwangerschaft, sondern auch vor Krankheiten?“ wurden geklärt. Besonders wichtig war Hebamme Miriam Spielmann, dass die Mädchen viel neues Wissen mit nach Hause nehmen, selbstsicherer werden und auf sich aufpassen.

„Natürlich finden die Mädels auch Antworten auf ihre Fragen im Internet, aber das Besprechen mit Gleichaltrigen ist nochmal was anderes“, stellte Barbara Marx fest. Bei dem Projekt ginge es an erster Stelle um die Selbstfindung, Fragen aus der Lebenswelt und zur Zukunft. Dagmar Wiethoff ergänzte: „Uns geht es um die Stärkung der Mädchen. Sie sollen merken: Ich bin mehr als nur Schülerin.“

Das gesamte Projekt basiert auf Vertrauen, das über die gemeinsamen Stunden immer stärker werde. Aus jahrelanger Erfahrung wissen die Lehrerinnen, dass die Hemmschwelle ab dem dritten Tag schon deutlich gesunken ist und am vierten Tag selbst die intimen Fragen meistens nicht mehr anonym gestellt werden. Neben dem Programm sei diese Entwicklung aber auch den äußeren Umständen geschuldet: „Wir können aus unserer Rolle als Lehrer nur bedingt raus, deshalb bringen uns die externen Experten und die anderen Räumlichkeiten so viel“, berichtete Dagmar Wiethoff. Die Schülerinnen wären frei von Erwartungen und Leistungsdruck.

Das Mädchenwelten-Projekt bereichert jedoch nicht nur die Jugendlichen, auch die Betreuer freuen sich jährlich auf das „andere Kennenlernen“ und das „viel miteinander und irgendwann auch übereinander Lachen“. Dagmar Wiethoff weiß, dass der Schritt von der neunten in die zehnte Klasse des Gymnasiums ein großer Schritt für alle Schüler sei. „Die Klassenverbände werden aufgelöst und über die Sommerferien bekommen viele Neuntklässler Angst vor dem neuen Kurssystem, doch durch dieses Projekt lernen sich die Schüler vorher schon klassenübergreifend kennen und kommen erst gar nicht in die Position Angst haben zu müssen.“

Jasmina Eickmann begleitete das erste Mal dieses Projekt und ihre anfänglichen Bedenken, dass die Schülerinnen sich vielleicht nicht trauen würden, mit einer Lehrperson über so private Dinge zu sprechen, lösten sich schnell in Luft auf: „Es war überraschend zu sehen, wie schnell Einige sich getraut haben so offen mit uns zu reden und noch viel schöner, als auch die stilleren Mädchen ihre Hemmschwellen überwunden haben. Der Austausch macht so viel Spaß und ich denke, dass auch wir Erwachsenen so ein besseres Verständnis für die Mädchen bekommen können.“ Miriam Degenhardt, die ehemalige Vertrauenslehrerin des Europagymnasiums, fügte hinzu: „Das Projekt trägt. Wir haben die letzten Jahre schon oft beobachten, wie sich die Schülerinnen auf dem Flur plötzlich angelächelt oder richtig gequatscht haben“. Genau aus diesem Grund entschied sie sich, extra für die Mädchenwelten wieder ein paar Tage lang nach Warstein zu reisen: „Die Aktion liegt mir einfach am Herzen!“ Dagmar Wiethoff fügte hinzu, dass Miriam Degenhardt auch über zusätzliche Kompetenzen verfüge, die die Gruppe sehr bereichern würden. Doch schlussendlich machen genau diese verschiedenen Kompetenzen, Lebenssituationen und Erfahrungen der Betreuerinnen das Projekt so umfangreich bereichernd und einzigartig.

Das berichteten die Neuntklässlerinnen auch selbst. „Man kann Erwachsene mal alles fragen, was man schon immer wissen wollte“, erzählte Teresa. Und Marie S. berichtete, dass der Umgang mit den Lehrerinnen auch total locker sei. „Es gibt kein richtig oder falsch, wie in der Schule“, so Teresa. Marie E. ergänzte: „Es ist auch nicht so streng. Wenn man nichts sagen möchte, dann muss man das auch nicht. Und es ist wirklich interessant, dass nicht nur Lehrerinnen dabei sind.“

Die Erfahrungen von Julia Maier, die als Sozialarbeiterin und Betreuerin im Warsteiner Treff täglich mit Kindern und Jugendlichen im Kontakt steht und Miriam Spielmann, die ihr Fachwissen als Hebamme teilte, beeindruckten die Jugendlichen. Marie Julie erzählte, dass sie sich besonders auf die Schilderungen von Miriam freue. Die Möglichkeit, eine Hebamme alles zu fragen, habe man nun mal auch nicht alle Tage. Aber auch das Verfassen von den Briefen machte den Mädchen viel Spaß sowie das Entspannen auf einer Traumreise oder das Erraten von Emojibedeutungen. Marie S. berichtete: „Es war echt witzig zu sehen, wie die Betreuerinnen manche Emojis deuten und wie wir die verstehen“ – und die anderen stimmten lachend zu. Mit der Zeit gewöhnten die Mädchen sich aneinander, wie Marie E. erzählt, auch wenn die Klassen vorher miteinander nicht so viel zu tun hatten, „sind wir mittlerweile eine fest eingespielte Truppe“. Die Mädchen sind der Überzeugung, dass sich das Projekt positiv auf ihre Stufengemeinschaft auswirken wird, „da man so viele persönliche Erfahrungen miteinander ausgetauscht hat. Das verbindet ja auch“, erklärte Dzana. Collien fügte hinzu, dass es eine gute Gelegenheit gewesen sei, viele Mädchen aus der Stufe besser kennenzulernen und „durch die verschiedensten Erfahrungen auch viel Neues über die Anderen und einen selbst zu lernen“. Die Mädchen hoffen deshalb, dass das Projekt noch mindestens weitere 25 Jahre Schülerinnen bei der Auseinandersetzung mit dem Thema „Wer bin ich und wer will ich in Zukunft sein?“ unterstützen wird.

 

Bericht von Leonie Craes, Soester Anzeiger Warstein, 02. Februar 2023

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