Gesamtdeutsche Betrachtungen

Veröffentlicht am 10. September 2019

Dr. Anne Ulrich zu Gast in Haus Kupferhammer und Europa-Gymnasium

„Erinnern Sie sich an das Glück, ganz große Geschichte in ihrem positivsten Sinn zu erleben?“ Vor allem die älteren Zuhörer, die am Sonntag zum Vortrag „30 Jahre Mauerfall – Gesamtdeutsche Betrachtungen“ ins Haus Kupferhammer gekommen waren, beantworteten die Eingangsfrage von Referentin Dr. Anne Ulrich mit einem Kopfnicken. Ungläubig staunend hatten die meisten von ihnen das Ende der friedlichen Revolution des Jahres 1989 vor den Fernseh-Bildschirmen erlebt. Drei Jahrzehnte sind seitdem ins wiedervereinigte Land gegangen.
Die Euphorie von damals wachzurufen, fiel dem Gast aus Berlin schwer – vor allem unter dem Eindruck der jüngsten Wahlergebnisse aus Brandenburg und Sachsen.
Mit dem Hinweis auf die veränderten parlamentarischen Verhältnisse war die Bildungsreferentin der Heinrich- Böll-Stiftung schon mittendrin im brisanten Thema: „Wir sehen schwankende Volksparteien – eine hohe Polarisierung – einen AfD-Anteil, der sie zur zweitstärksten Partei macht und auch solide Zuwächse bei den Grünen.“
Rund um das Mauerfall- Jubiläum seien die Feuilletons voller Kontroversen gewesen, stellte Ulrich auch mit dem Verweis auf die Vielzahl der nicht klein zu kriegenden „Ossi-Wessi-Klischees“ fest: „Viele wünschen sich in Ost und West, das würde endlich mal aufhören, wir würden uns über die Erfolge des Landes freuen und gemeinsam nach vorn blicken.“ Was diesen Verallgemeinerungen zugrunde liegt, entschlüsselte die DDR-Forscherin anhand verschiedener Beispiele aus dem Leben insbesondere der Ostdeutschen nach der Wende. So sei es für viele schockierend gewesen, dass die Demokratisierung Hand in Hand mit der Deindustrialisierung gekommen sei: „Dass das sozialistische Recht auf Arbeit wegfallen könnte, haben sich sicher die meisten nicht vorstellen können.“ Sei doch „Arbeit“ der Motor der realsozialistischen Gesellschaftsbildung gewesen. Die Betriebe organisierten unter anderem die Geselligkeit, Ferienaufenthalte und kulturelle Veranstaltungen. All das kollabierte zusammen mit der Stilllegung der großen Werke: „Mit der enormen Arbeitslosigkeit kam der Zusammenbruch der sozial-kulturellen Infrastruktur.“

Eine nächste „Enteignungs- und Entwertungserfahrung“ war nach den Worten der Referentin die Einführung von „Hartz IV“ gerade in dem Moment, als Ostdeutschland mit 1,6 Millionen die höchste, je gemessene Zahl an Arbeitslosen beklagen musste. Darüber hinaus habe die Wiedervereinigung den Menschen im Beitrittsgebiet kollektiv Umbrüche abverlangt, von deren Dimension für das Alltagsleben die meisten im Westen wenig wüssten. Zu dieser „gespaltenen Erfahrung“ gehört für Dr. Ulrich auch die Ost-West-Wertehierarchie nach der Wiedervereinigung:
„Der Osten ist ja kollabiert, also die waren pleite – ökonomisch und ideologisch – der Westen und sein Personal bildeten die übergeordnete Norm für fast alles, was in der Vereinigungspolitik so stattgefunden hat.“ Unter dem Strich habe nichts verändert werden dürfen, was im Westen reformbedürftig gewesen sei und vom Osten habe selbst Vernünftiges nicht bleiben dürfen.

Was aber hat es mit den rechten Traditionen im Osten auf sich? Auch diesem Kapitel widmete sich die Referentin ausführlich. Schließlich sei es doch erstaunlich, dass in Sachsen eine Pegida Bewegung aufkomme, obwohl es dort fast keine Muslime gebe. Dabei ließ sie keinen Zweifel daran, dass Rechtsradikalismus als gesamtdeutsches Problem gesehen werden muss. Nicht zuletzt stamme ja das Spitzenpersonal der AfD aus Westdeutschland.
Die These der Referentin: „Die DDR transportierte einen Boden für Liebhaber einer autoritären Kultur und eine auch im Westen gewachsene Szene weiß das gut für ihre Interessen zu nutzen.“

Am Ende hielt die Sprecherin aber auch gute Botschaften bereit. Danach will der große Teil der Bevölkerung „was anderes“ – nämlich die gute Entwicklung voranbringen. Den Menschen in Ost und West gab sie den Rat, sich füreinander zu interessieren. Wer den Weg zu einer toleranten, konstruktiven, zum Frieden fähigen Gesellschaft beschreiten wolle, der müsse unbedingt „raus aus dem Opfer-, rein in den Bürger- Status“. Mit einem Zitat aus einem offenen Brief der DDR Bürgerrechtler verabschiedete sich Dr. Anne Ulrich von ihren begeisterten Zuhörern: „Dies ist bereits unser Land, unser demokratisches Europa, lasst uns was Gutes draus machen!“

Gestern Morgen referierte die DDR-Forscherin zu gleichem Thema im Forum des Europa Gymnasiums. Im Anschluss an ihren Vortrag lud sie die Schülerinnen und Schüler der Oberstufe zur gemeinsamen Diskussion ein und gab ihnen weiterführende Literatur zur Nachbereitung
mit an die Hand.

 

Soester Anzeiger vom 10.09.19.

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