Das Reisetagebuch zur Gedenkstättenfahrt: Massenmord mit Musikbegleitung

Veröffentlicht am 12. Januar 2019

Vier Tage lang begaben sich 34 Mädchen und Jungen des Gymnasiums Warstein auf „Spurensuche Nationalsozialismus“ in Ostpolen.
Stadtbesichtigungen, Zeitzeugengespräch, sowie Besuche im Konzentrationslager Majdanek und im Vernichtungslager Belzec standen auf dem
Programm.

Montag, 7. Januar, 15 Uhr: „Lublin – Multikulturelle Spurensuche einer germanisierten Stadt“

Elzbita Kocyla ist eigentlich Lehrerin. Für Deutsch an einer Schule in Lublin. Und in ihrer Freizeit beschäftigt sie sich gerne mit Geschichtsthemen, insbesondere rund um den Holocaust und den zweiten Weltkrieg. Dieses Interesse hat auch einen familiären Hintergrund: Ihre Oma – „leider ist sie schon sehr früh gestorben“ – hat ganz in der Nähe des deutschen Konzentrationslagers Majdanek gewohnt, so dass Elzbita Kocyla in Kindheitstagen immer wieder mit Erzählungen und Geschichten über die Greueltaten konfrontiert wurde. Da war zum Beispiel der verletzte Partisane, der bei der Oma Unterschlupf fand, bis er neue Papiere und eine neue Unterkunft gefunden hatte. Als unvermittelt zwei Männer in schwarzen SS-Uniformen klingelten, „hat meine Oma in einer Sekunde ihr Leben an sich vorbeiziehen sehen“.
Es waren Wachmänner aus Majdanek, die nach geflüchteten Gefangenen suchten. Mit einem Glas Milch und frisch gebackenem Kuchen
lenkte sie die SS-Offiziere ab, die sich schließlich nach einer Stunde wieder aufmachten – mit vollem Magen ohne Hausdurchsuchung.
Nach Kriegsende hielt sie es nicht mehr aus in der Nähe des Konzentrationslagers, verkaufte das Haus: „Sie konnte nicht mehr dort wohnen,
hatte immer den Geruch aus dem Krematorium in der Nase.“
Beim Stadtrundgang führte Elzbita Kocyla die Schülerinnen und Schüler, die zweite Gruppe war mit Wieslaw Wysok unterwegs, zu den Orten
in der Stadt Lublin, die eng mit der massenhaften Ermordung von Juden bei der in der Nacht vom 16. auf den 17. März 1942 gestarteten „Aktion
Reinhardt“ verbunden sind. „Viele assoziieren mit dem Holocaust Auschwitz und Birkenau“, so Elzbita Kocyla, wenn es aber um die Vernichtung der polnischen Juden gehe, dann führe kein Weg an Lublin vorbei. Im ehemaligen Männergymnasium, heute „Collegium Iuridicum“, quartierte sich damals der SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik ein und setzte von dort aus den Befehl zur Ermordung der polnischen Juden und den Bau von drei Vernichtungslagern in Belzec, Sobibor und Treblinka um. Während man in den Konzentrationslagern vor allem die Arbeitskraft der Häftlinge ausnutzte und sie „nebenbei tötete“, habe es in den Vernichtungslagern nur ein Ziel gegeben: „Töten und ermorden.“
Ob Friedhof oder Evangelische Kirche, die Errichtung eines Ghettos, die Vernichtung ganzer Wohnviertel der jüdischen Mitbürger, die Bombenangriffe auf die Stadt, die Erschießung von Kindern aus dem Waisenhaus – Elzbita Kocyla wusste innerhalb von zwei Stunden bei klirrender Kälte viel über die NS-Besatzungszeit zu berichten und bildete damit die Einleitung für die Besuche in Majdanek und Belzec.

 

Dienstag, 8. Januar, 9 Uhr: „Das Konzentrations- und Vernichtungslager Lublin (Majdanek)“

Der Wind pfeift eisig über das riesige Gelände, treibt den Schnee vor sich her, macht die eigentlich einstellige Minustemperatur gefühlt zweistellig. Die 17 Mädchen und 17 Jungen des Gymnasiums sind dick eingepackt, als sie zusammen mit den beiden jungen Guides Caroline Stier aus Deutschland und Markus Trauner aus Österreich zum knapp dreistündigen Rundgang durch das Konzentrationslager Majdane vor den Toren Lublins aufbrechen.
Dass die Deutschen genau dort 1941 das Lager für bis zu 50000 Kriegsgefangene errichteten, liegt am Mikroklima. Dort ist es noch windiger an exponierter Lage, so dass die Natur damals mithalf bei der Tötung der Menschen. Nur 50 Prozent der Opfer seien in den Gaskammern gestorben, erläutert Caroline Stier. „Auch die Arbeit war als Vernichtung gedacht.“ Insgesamt 80000 Menschen, darunter 60000 Juden, kamen in Majdanek ums Leben. Anfangs war man von viel höheren Opferzahlen ausgegangen, denn nach der Befreiung durch die Rote Armee – damals waren nur noch 8500 Häftlinge im Lager, die zu schwach für den Abtransport gewesen waren – hatte man 430000 Paar Schuhe gefunden. Die waren aber, wie sich später herausstellte, auch aus anderen Lagern nach Lublin gebracht worden. 50000 in Metallgitterkörben zusammengepferchte Paare erinnern heute in einer Baracke an die vielen Getöteten.
In den Wohnbaracken – die hölzernen Bauten erinnern eher an Pferdeställe – herrschten damals „furchtbare Bedingungen“. Sie seien „völlig überfüllt“ gewesen, „man konnte es kaum aushalten“, zudem war es im Winter ohne Heizung sehr kalt. Nachts durfte die Baracke nicht verlassen werden, eine Holzkiste in der Ecke diente als Not-Toilette. Viele Krankheiten grassierten, verbreiteten sich aufgrund der hygienischen Bedingungen schnell. „Typhus war die häufigste Todesursache.“ Meist vermieden es die Kranken, die Krankenstation aufzusuchen: „Die SS-Ärzte haben nicht geholfen, nur die Häftlingsärzte.“

Welche Stationen alle Neuankömmlinge im Lager durchlaufen mussten, erfuhren die Gymnasiasten bei ihrem Rundgang: Vom Abschneiden aller Körperhaare über die Desinfektion in Bottichen bis hin zu den wechselnd kalt-heißen Duschen. Anschließend gab es Häftlingskleidung – mit Nummern und mit farbigen Winkeln als Kennzeichnung: Grün beispielsweise für Kriminelle, die gerne als „Funktionskräfte“ von den Deutschen eingesetzt wurden, violett für Zeugen Jehovas, rot für politisch Inhaftierte… Die abgenommene Kleidung kam zur Desinfektionskammer. „Ursprünglich war das Zyklon B zur Desinfektion gedacht“, später wurden damit auch die Menschen in der Gaskammer in Majdanek umgebracht. Und mit Kohlenmonoxid- Abgasen von Verbrennungsmotoren. Die Leichen wurden im Krematorium verbrannt – und die dabei entstandene Wärme nutze man, um warmes Badewasser für die Offiziere zu erzeugen. Zum Abschluss der „Aktion Reinhardt“ initiierten die Deutschen schließlich die „Aktion Erntefest“ in drei Vernichtungslagern im Generalgouvernement Polen, zu denen auch das KZ Majdanek gehörte. Am 3. November 1943 wurde dort „eine der größten Massenexekutionen durchgeführt“: 18400 Menschen wurden erschossen, während eine Band das ganze Lager mit Tanzmusik beschallte. Neben den erhalten gebliebenen Gebäuden, Wachtürmen, Baracken und Stacheldrahtzäunen erinnert auch ein zweiteiliges Denkmal an die Ereignisse in der NS-Zeit. Das Tordenkmal am Eingang symbolisiert auf der einen Seite die „Hölle des Lagers“, auf der anderen Seite die Freiheit draußen. Abgebildet sind darauf menschliche Körper, die kaum zu erkennen sind. Auf der anderen Seite des Lagers steht das Mausoleum, das mit der Asche von Ermordeten  gefüllt ist. Beide Denkmäler sind durch den „Weg der Ehre“ miteinander verbunden.

 

Dienstag, 8. Januar, 16 Uhr: „Schicksale polnischer Familien während der Besatzungszeit“

Bei Anna Bronikowska sind es gemischte Gefühle, wenn sie an den 2. Weltkrieg zurückdenkt. Zum einen ist da ein „Groll gegen die Gestapo und Soldaten“. Dem stehtnaber auch etwas positives gegenüber:n„Freude über die Hilfe von deutschen Frauennund einem älteren Ehepaar.“
Letzteres hat sie nie kennengelernt.nLeider, sagt sie heute,ndenn sie haben damals 1943 ihrer als Zwangsarbeiterin nach Rosenheim verschleppten Mutter sehr geholfen. Bei einer Razzia als Vergeltungsmaßnahme nach der Ermordung von zwei deutschen Soldaten durch die Partisanen war ihre schwangere Mutter von den deutschen Soldaten willkürlich mitgenommen worden. Hochschwanger. Bereits einen Monat nach der Ankunft in Deutschland, Majdanek war für die Mutter glücklicherweise nur eine zweieinhalbwöchige Zwischenstation, kam Baby Anna zur Welt. Der Säugling wurde der Mutter weggenommen: „Ich sollte germanisiert werden“, erläuterte sie den deutschen Schülern. Doch der Mutter gelang es, mit Hilfe anderer Frauen, ihren Säugling heimlich zu sehen. Und schließlich bekam sie, es war die Zeit der Bombenangriffe und des Einmarschs der Alliierten, auch ihre Tochter zurück. Nach 15 Monaten Zwangsarbeit in Deutschland ging es zurück in die polnische
Heimat.
Erinnerungen an die Zeit hat Anna Bronikowska selber nicht mehr. Nur an die Erzählungen ihrer Mutter: „Sie hat aber nicht gerne erzählt, wie das damals war. Das fiel ihr schwer.“ Schlechte Bedingungen, Platzmangel, Zwangsarbeit, Verbote und Misshandlungen – nach und nach gab die Mutter einige Einblicke in die kurze Zeit in Majdanek. Sie entkam dem Lager, ihr Opa gehörte zwar zu den befreiten Lagerinsassen, starb aber auf dem Weg nach Hause an Erschöpfung.
Die Mutter hatte als Folge der Zwangsverschleppung und der Zwangsarbeit körperliche wie psychische Probleme. Und auch die Tochter Anna
litt unter den Folgen: „Ich hatte lange Zeit Angst, wenn ich die deutsche Sprache gehört habe.“
„Ich hoffe, dass meine Kinder und Enkel sowas nicht wieder erleben müssen“, hatte die Mutter von Anna Bronikowska „bis zu ihrem Tod immer wieder betont.“ Im Gespräch mit den Warsteiner Gymnasiasten wird die 74- Jährige nachdenklich und ernst: „Ich habe sehr viel Angst davor, dass das wieder passieren könnte“, erklärt sie. Ihre Mutter und weitere Verwandte sind auf dem Friedhof direkt neben dem Konzentrationslager beerdigt. „Ich sehe sehr wenig polnische Jugendliche in der Gedenkstätte“, bedauert sie, dass in ihrem eigenen Land die Thematik inzwischen vergessen, vielleicht sogar verdrängt wird. Um so mehr freue sie sich, lässt sie vom Dolmetscher-Duo Katarzyna Ciurapinska und Anton Tsvid übersetzen, dass „sich junge Leute aus Deutschland mit der Geschichte auseinandersetzen und es auch weitergeben“. Dem Wunsch der deutschen Schülerinnen und Schüler nach einem Gruppenfoto mit ihr kommt sie gerne nach. Und auch sie bittet um ein Erinnerungsfoto auf ihrem Handy. Sie ist sichtlich glücklich, dass sie ihre Geschichte aufmerksam lauschenden und interessiert fragenden deutschen Jugendlichen erzählen durfte.

 

Mittwoch, 9. Januar, 9 Uhr, „Vom Schtetl Izbica zum Durchgangsghetto Izbica“

 

Es war der 13. März 1942, als die ersten Deportierten aus Tschechien in Izbica eintrafen. Rund 5000 Menschen lebten damals dort, fast ausschließlich Juden. Für die deutschen Besatzer war es ein idealer Ort – dank Berghängen auf drei Seiten war er aus ihrer Sicht ideal als leicht zu überwachendes Ghetto, in dem schließlich bis zu 18000 Menschen zusammengepfercht wurden. „Es waren katastrophale Lebensumstände“, berichtet Ewelina Szumilak, Mitarbeiterin im Museum und der Gedenkstätte in Belzec. Izbica war eine von 20 Ortschaften, die als Durchgangslager genutzt wurden, Izbica war das größte. Nach rund acht Monaten wurde es aufgelöst: „Am Ende des Holocausts lebte hier kein
Mensch mehr“, so Ewelina Szumilak. Die 2000 Menschen, die nicht in eines der Vernichtungslager gebracht wurden, erschoss man am Friedhof und verscharrte sie in einem Massengrab. Die leeren Häuser wurden nach Kriegsende von Kriegsflüchtlingen aus der heutigen Ukraine besiedelt.
Kurt Engels hatte dort als SS-Mann das Sagen. Ewelina Szumilak: „Er war eine grausame Bestie.“ Eine seiner Ideen: Er befahl dem Judenrat, aus den jüdischen Grabsteinen eine Arrestzelle neben dem Gestapo-Quartier zu bauen. Diese stand übrigens bis 2007, erst dann errichtete aus den Grabsteinen eine Stiftung einen Raum für Gebete auf dem Friedhof. Die Auslöschung der kompletten Bevölkerung hatte auch Auswirkungen auf die Erinnerungskultur: „Niemand kümmert sich um das jüdische Erbe“, bedauerte die Museumsmitarbeiterin.

 

Mittwoch, 9. Januar, 12 Uhr, „Die Vernichtungsstätte Belzec“

 

Farbenfrohe Blumen, heitere Musik und hübsche Haus fassaden: Frohen Mutes stiegen am 7. März 1942 rund 6000 Personen an der Haltestelle „Belzec“ nahe der heutigen ukrainischen Grenze aus den 60 Güterwaggons. „Die Menschen freuten sich auf Duschen und auch auf Arbeit“, so Ewelina Szumilak, „und als sie die Blumen gesehen haben, haben sie nicht an den Tod gedacht.“ Doch die neben die Haltestelle gebaute Einrichtung hatte nur ein Ziel: den Tod.

Den Tod möglichst vieler Menschen in kürzester Zeit. Es dauerte keine zwei Stunden, dann waren alle Männer tot, zwei Stunden später auch alle Frauen: „Sie kamen hier hin und wurden sofort getötet.“ Nackt. Mit Kohlenmonoxid-Abgasen alaus einem Verbrennungsmotor. Zehn Tage später kam bereits der zweite Transport mit 5000 Menschen…
Von März bis Dezember 1942 wurden im deutschen Vernichtungslager Belzec 500000 Menschen getötet und in Massengräbern verscharrt. „Es herrschte hier ein Gestank, man konnte kaum hier leben oder arbeiten.“ Und man hatte keinen Platz mehr, um neue Leichen zu lagern. Daher wurden die Toten exhumiert und auf einem halben Dutzend Feuerstellen aus Bahnschienen verbrannt. Ewelina Szumilak: „Von Anfang Dezember bis Ende März waren fünf bis sechs Feuerstellen Tag und Nacht in Betrieb.“ Die Spurenverwischung der Deutschen ging noch weiter: Die Knochen wurden klein gemahlen und schließlich als „Dünger“ verstreut, dann Bäume angepflanzt.

Heute existiert am Ort des Vernichtungslagers nur noch eine 2004 errichtete Gedenkstätte mit Museum, die Deutschen hatten bei ihrem Rückzug alle Gebäude völlig zerstört.

Mittwoch, 9. Januar, 16.30 Uhr, „Die Geschichte der Kinder von Zamosc“

Neben der Vernichtung der Juden stand auch die Schaffung von „Lebensraum für die arische Herrenrasse“ auf der Agenda der Deutschen, so Katarzyna Ciurapinska. Im November 1941 erfolgte im Raum Zamosc die erste „Probeansiedlung“, später folgten weitere. Dafür wurden mehr als 110000 Menschen aus der Region zwangsumgesiedelt – teils auch in das Vernichtungslager Majdanek. Von den 30000 Kindern und Jugendlichen wählten die Besatzer „rund 10000 mit arischem Aussehen“ aus uverschleppten sie zur Germanisierung nach Deutschland“. Von diesen kehrten alauslerdings nur 800 nach Kriegsende zurück zu ihren Eltern: „Viele leben noch in Deutschland Deutschland und wissen gar nicht, dass ihre eigentlichen Eltern in Polen leben…“

 

Von: Christian Clewing, Soester Anzeiger vom 12.1.19.

 

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